Balance einmal anders

Die eigenen Balance zu finden ist oft schwierig. Es dauert lange und braucht viel Übung, um die Pendelbewegungen von traurig, glücklich, wütend und hilflos selbst ausgleichen zu können. Helfen können uns der Austausch mit Freunden, die Blumen im Garten, die mit uns lebenden Tiere und manchmal das Glas Wein oder die Schokolade. Unter den Pflanzen verkörpern die Malvengewächse das Prinzip der Balance in besonderer Weise: Sie haben meist zarte wunderschöne Blüten wie die Hibiskusblüte, die Stockrosen oder die Zistrose und entwickeln dann überraschend grobe große Früchte wie die Baumwollkapsel. Es geht dabei um den Ausgleich der Extreme, nicht aber um die Einebnung der Gegensätze. Es geht um das Aushalten der Gegensätze und Widersprüchlichkeit, nicht um die Reduzierung und Vereindeutigung. Die Ambivalenz in uns selbst ist das “Menschliche”, das Wertvolle, was uns von der Eindeutigkeit der Maschinen unterscheidet. Unsere Seele kann sich nur entfalten, wenn sie in ihrem Rhythmus frei schwingen kann und das Schwingen des Pendels begrüsst wird.

Ein besonderer Aspekt der Balance zeigt sich bei der Zistrose darin, dass sie als starke Pflanze eine andere Pflanze mitträgt und sie eigenständig blühen lässt. Es handelt sich dabei um den Zistrosenwürger. Diese Pflanze hat keine Wurzeln, keine Stengel, keine Blätter und damit kein Grün. Sie lebt vollständig in der Zistrose und ist unsichtbar. Der Zistrosenwürger tötet die Zistrose nicht, aber er schwächt sie. Er wird nur sichtbar, wenn er blüht. Dann bildet er Blütenstände und Samen. Wie die keimenden Samen ihren Wirt finden, konnte bisher nie beobachtet werden. Es scheint aber chemische Signale zu geben. Wir bezeichnen diese Pflanzen als Vollschmarotzer und bewerten sie meist negativ.

Was haben Vollschmarotzer mit Balance zu tun? Damit das Leben der Zistrosenwürger und anderer Schmarotzer möglich ist und damit die Vielfalt erhöht, muss es der Wirtspflanze in ihrem Lebensumfeld gut gehen. Nur dann kann der Schmarotzer mit einem Geflecht innerhalb der Wurzeln des Wirts leben und irgendwann blühen und das Lebensumfeld um eine weitere Facette bereichern. Mit der Rafflesia zeigt sich in den Tropen der Schmarotzer in seiner ganzen Pracht: Er entwickelt mit einem Durchmesser von mehr als einem Meter die größte Einzelblüte der Welt.

Rafflesia

Instinktiv lehnen wir die Lebensform des Schmarotzers ab: Wir fordern Eigenständigkeit, Sichtbarkeit und Wohltätigkeit und sehen das Dasein des Schmarotzers als Ausbeutung und Schwächung anderen Lebens. Insbesondere wenn wir selbst ausgenutzt wurden oder die Ausnutzung erkennen, stehen wir mit dieser Lebensform auf Kriegsfuss. Wir erkennen die Stärke der Ausbeutung und wollen die Schwäche der Abhängigkeit vom Wirt nicht sehen. Wenn wir fasziniert sind von dieser Lebensform, dann erkennen wir vielleicht die ökonomische Effizienz und die Anpassungsfähigkeit oder bewundern die Stärke des Wirtes. Vielleicht sind wir sogar dankbar, wenn neue Kreationen entstehen und erfreuen uns an der Riesenblüte. Die Balance müssen wir nicht nur in uns selbst finden, sondern sie muss auch in der Gemeinschaft vorhanden sein. In der Vegetation sind die Wirtspflanzen oft Pflanzen der “Mittelschicht”, des Untergehölzes, die andere Lebensformen mit tragen und extreme Schwankungen puffern. Wenn Ausnutzung zur Regel wird und der Wirt, also der Mittelbau, geschwächt wird, kommt es zur Zerstörung und dem Verschwinden fragiler Lebensformen. Die Last, die der Wirt mit trägt, ist von außen betrachtet meist unsichtbar, wir erkennen sie nur, wenn wir Teil einer Gemeinschaft sind und diese regional und damit überschaubar ist.

Auch wir selbst tragen oft andere Menschen mit: In der Familie unsere Kinder, manchmal unsere Freunde und im Verein oder einer Gemeinschaft begleiten wir die Entwicklung anderer in einem bestimmten Bereich und wir freuen uns, wenn unsere geleistete Arbeit Früchte trägt und “unsere Kinder” aufblühen. Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass auch wir selbst gestärkt werden müssen durch finanzielle Zuwendungen, einen Ausgleich oder Anerkennung. Die Vielfalt des Lebens entsteht aus vertrauter Verbundenheit, die gelebt werden will.

weitere Anregung zu ausgleichenden Pflanzen:
Pflanzen für die Balance - Balancing plants
Pflanzenposter mit Pflanzenillustrationen und Kurztexten